Think Pink


 

Kaum etwas gestaltet sich heiterer, als ein Ausflug in die 'spirituelle Szene'. Denn dort, wo wir meinen, den Göttern extraordinär nahe zu sein - menschelt es häufig ganz besonders...

 

Unsere Gedanken erschaffen unsere Realität. Wir sind, was wir denken. Jeglicher grobstofflichen Wirklichkeit liegen feinstoffliche Ursächlichkeiten zugrunde.

 

Keinesfalls möchte ich den engen Zusammenhang zwischen Denken und Sein, zwischen Vorstellungskraft und Erfahrung, zwischen innerer und äußerer Realität leugnen. Dennoch: Seitdem wir es hier nicht mehr mit dezenten Angeboten positiver Affirmationsmöglichkeiten sowie behutsamen Verweisen auf nutzbringende Gedankenmuster zu tun haben, sondern diese zu unseren Tagen dem Absolut eines zwingend gewordenen Anspruchs weichen mussten, lastet ein enormer Druck auf meinen Schultern. Ich spreche von der Aufforderung, dringendst auf unsere Gedanken zu achten und nur noch Gutes, ergo: nichts Schlechtes mehr zu denken. Weil dann ganz Schlimmes passiert.

 

Ich fasse zusammen: Der spirituelle Bewusstseinsjünger dieser Tage sieht sich heute allerorts wie unwiderruflich dazu aufgefordert, dringendst auf seine Gedanken zu achten und nur noch Gutes, auf gar keinen Fall aber länger Schlechtes zu denken. Denn: Die innovative Lehre unserer Gegenwart hat wieder einmal druckfrische Erkenntnis für sich ausgemacht und verkündet seither, dass es niemals so wichtig gewesen sei, Gutes, niemals aber so risikoreich wie heute, auch nur vereinzelt Schlechtes zu denken.

 

Daraus aber folgt: Wir haben dringendst auf unsere Gedanken zu achten.

 

All dies, um diese Welt endlich zu einer Besseren zu machen (mittels unserer Gedanken), ihr in eine verheißungsvolle Zukunft zu verhelfen (mittels unserer Gedanken) und nicht zuletzt, um uns zu diesen Tagen der gesteigerten Verantwortung eines Mitschöpfertums, als weise wie verantwortliche Schöpfergötter zu erweisen (mittels unserer Gedanken). Tatsache scheint: Wir sind für mündig erklärt. Gott hält uns für erwachsen. Von nun an gibt niemand mehr Acht, was wir denken. Von nun an hält niemand mehr eventuellen Schaden begrenzt. Zu schade auch.

 

Und schließlich unterliegen all unsere Manifestationen [die tatsächlich niemals einem anderen Prinzip folgten, nebenbei bemerkt], heute einer stetig zunehmenden, unwiderruflichen Zeitbeschleunigung, die unseren Gedanken immer unverzüglicher Realität folgen lassen. Nicht nur daher sind wir kaum noch imstande, so mitgelieferte Erklärung, unsere Manifestationen zu revidieren, wie es uns beispielsweise noch vor einem guten Jahrzehnt möglich gewesen sei. Was jedoch zweifelsfrei bedeutet, dass unsere Gedanken zu diesen Tagen nicht ganz ungefährlich seien. Ein Hinweis, der es mir allerdings nicht wirklich leichter macht.

 

Seitdem ich also mit diesem überaus wesentlichen, unermüdlich aufgefrischten Appell konfrontiert worden bin, nur noch Gutes, ergo nichts Schlechtes mehr zu denken, habe ich ein Problem.

 

Man könnte auch sagen: Seitdem mir zu Ohren gedrungen ist, wie fundamental wichtig es sei, ausschließlich positiv zu denken, ist es mir unmöglich geworden, positiv zu denken.

 

Und so ist es wiederholt die spirituelle Praxis, die mich eines unbedarften Gottvertrauens beraubt und mir dafür Bewusstsein schenkt. Ich muss ihr wohl dankbar sein.

 

Ich denke, also bin ich. Und ganz bestimmt bin ich spirituell. Daher möchte ich mir die Aufforderung, nur noch Gutes, ergo, keinesfalls Schlechtes mehr zu denken, auch unbedingt zu eigen machen. Ganz sicher ist es nicht so, dass ich nicht auch im Vorhinein bereitwillig wie wiederkehrend verschiedene Impulse aufnahm, die mich anhielten, meine Lebenswirklichkeit durch Überprüfung jeweils zugrundeliegender Überzeugungen und Gedankenmuster mehr und mehr zu optimieren. Ich befand mich sozusagen auf dem Weg gen himmlischer Wahrheit und der schrittweisen Anerkennung ihrer ausschließlichen Herrlichkeit. Nix da – die Parole unserer Zeit gebietet mir 'Umkehren'. Denn heute bewege ich mich nicht mehr in Richtung Gottvertrauen - geschweige denn in Richtung der schrittweisen Anerkennung tatsächlicher Herrlichkeit allen wahrhaftigen Seins. Eigentlich beschäftige ich mich mit solchen Dingen heute überhaupt nicht mehr. Heute habe ich - nur noch Angst.

 

Doch der Reihe nach:  Da ich die akute Erkenntnis über Wichtigkeit und zwingende Notwendigkeit eines keimfreien Denkens als uneingeschränkten Fortschritt unseres ansteigenden Bewusstseins begreifen möchte - schließlich halte ich ja was auf sie, meine spirituellen Brüder & Schwestern - will ich ihr zweifelsfrei Folge leisten.

 

Anders ausgedrückt: Ich bin ein spiritueller Mensch. Und wenn sich der spirituelle Mensch zu diesen Tagen aufgefordert sieht, nur noch Positives zu denken, werde ich eben nur noch Positives denken. Wie besagt: Ich bin ein spiritueller Mensch.

 

Und außerdem: Für den Ruin kollektiver wie individueller Realität will ich schon mal gar nicht verantwortlich sein. Nein, nein. Kommt überhaupt nicht in die Tüte.

 

Also ran an die Praxis.

 

Hingegen gestaltet es sich keineswegs einfach für mich, diesem neuen Wissen seine Umsetzung angedeihen zu lassen. Ich wiederhole: Ich soll von heute an nur noch Gutes - niemals mehr wieder aber Schlechtes denken. Capito.

 

Im ersten Schritt stehe ich somit fraglos vor der Schwierigkeit herauszufinden, was gutes und was schlechtes, was positives und was negatives Denken überhaupt bezeichnen will.

 

Hatte ich mich bis hierher noch an dem Grundsatz orientiert, dass Bewertungen vorrangig menschengemacht seien, beliebig umkehrbar wären - als auch vorderstes Kennzeichen einer illusionären Dualität - bin ich nun vollends gewillt, mein Bewusstsein auf den aktuellen Stand zu bringen. Ohne Zweifel bin ich zu diesem Zweck aufgefordert hinzuzulernen: Es gibt demnach doch gut und schlecht.

 

Und nicht nur das. Darüber hinaus sind wir angehalten, diese beiden tunlichst und hübsch säuberlich voneinander getrennt zu halten. Dies, um nachfolgend nur noch das eine - niemals mehr wieder aber das andere zu tun. Geschweige denn zu denken.

 

Um erwünschtem Klassenziel jedoch gleichfalls Genüge zu leisten, sprich: fortan nur noch Gutes, niemals mehr wieder aber Schlechtes zu denken - denn wie gesagt möchte ich mich keinesfalls für den Rückschritt dieser Welt verantwortlich zeichnen und verspüre gleichermaßen nur verhaltene Lust, mich irgendwann meiner persönlichen Hölle gegenüber zu sehen - vertiefe ich meine Überlegungen.

 

Schließlich gelange ich zu der Einsicht, dass positives Denken all das bezeichnen möchte, was ich will, negatives Denken an dieser Stelle jedoch nur all dasjenige meinen kann, was ich nicht will. Die Sache ist klar: Folgend muss ich das negative Denken eindeutig von dem positiven Denken abgrenzen und genau in Erfahrung bringen, womit ich es jeweils zu tun habe. Mit gutem oder mit schlechtem Denken. Denn nur so kann ich sicher sein, letzteres nicht zu denken. Niemals wieder. Nie mehr.

 

Da ich mir zeit meines Lebens jedoch ausschließlich Gedanken darüber gemacht habe, was ich will, stehe ich nun fraglos vor der Aufgabe, ebenfalls Gedanken darüber anzustellen, was ich nicht will. Nur so werde ich die beiden unterscheiden lernen und feststellen dürfen, an welchen Stellen ich mit positivem, an welchen Stellen ich hingegen mit negativem Denken konfrontiert bin.

 

Ich fahre unverzüglich fort: Was ist es, das ich nicht will? Um mir diese Frage ausreichend zu beantworten, und damit wirklich sicher zu gehen, jegliches negative Denken in naher Zukunft vollständig zu eliminieren, erstelle ich im Geiste eine Liste all dessen, was ich nicht will. Ich bin mir sicher, dass dieses Vorgehen als effektiver Anstieg meines gegenwärtigen Bewusstseins bezeichnet werden darf - denn hierüber habe ich mir tatsächlich noch niemals vorher Gedanken gemacht.

 

Sobald ich meine Aufstellung aber vollständig wähne - was durchaus ein paar Tage in Anspruch nimmt - gibt es doch schließlich so vieles, das ich nicht will - kehre ich zu der ursprünglichen Ausgangsüberlegung zurück. Im zweiten Schritt wird es nun darum gehen, gesamte negative Aspekte, die ich mir nun so sorgfältig erdacht habe, von nun an nicht mehr zu denken. Genaugenommen: Nie mehr. Kein einziges Mal.

 

Frisch ans Werk: Ich bemühe mich umgehend wie aufrichtig, dieser Aufforderung hier und jetzt gerecht zu werden, und denke nochmals alles, was ich nicht denken will. Alles richtig gemacht?

 

Einen Augenblick mal – ich denke, was ich nicht denken will, hier scheint ein Haken. Ich versuche es nochmals. Und wieder: Ich denke, was ich nicht denken will. Tatsächlich kann ich an nichts und niemand anderes mehr denken. Urplötzlich beschleicht mich Angst. Warum denke ich, was ich nicht denken will? Das, was ich niemals denken sollte - noch jemals zuvor dachte?

 

Ich mache Versuche, in Gang gesetztes Karussell zu stoppen, kann aber nicht einmal mehr von ihm abspringen. Meine Befürchtungen verstärken sich: Was, wenn es nun stimmt, dass sich das, was wir denken, umgehend zu manifestieren sucht? Immerhin möchte ich hiervon ausgehen, denn schließlich war es mein Vertrauen in die spirituelle Erkenntniskraft unserer Gegenwart, die mich diesen Pfad überhaupt erst beschreiten ließ. Anders ausgedrückt: Würde ich nicht davon ausgegangen sein, dass an dieser Sache auch nur irgendetwas dran wäre, hätte ich sicher nicht versucht, von hier an nur noch positiv zu denken. Allerdings weiß auch dieser Gedanke meine Situation kaum zu verbessern.

 

Seither aber denke ich, was ich nicht denken will und frage mich verzweifelt, warum es mir unmöglich geworden zu sein scheint, einfach zu denken, was ich denken will. Doch alle meine Bemühungen, endlich wieder zu denken, was ich denken will - und nicht mehr zu denken, was ich nicht denken will - sind vergeblich.

 

Kennt ihr die Geschichte vom rosanen Elefanten? Stellen wir uns ganz einfach vor eine andere Person und erzählen ihr fortdauernd, dass sie an alles, aber nicht an einen rosanen Elefanten denken soll. Tatsächlich erprobte Feldstudie ergibt, dass im Vergleich zum völlig unangeleiteten Probanden jene Testperson proportional vielmals häufiger an einen rosanen Elefanten denken muss, die angehalten wird, daran nicht zu denken. Wer sich hier wundert, der hat den aufrichtigen Selbsttest noch vor sich.

 

Wenn wir dem 'Denke nicht an einen rosanen Elefanten' nun auch noch hinzufügen 'Wenn du das tust, wird etwas ganz Schlimmes passieren', lässt sich beschriebene Wirkweise unter Umständen noch geringfügig verstärken. Keine Scheu – probieren wir es aus, wir werden hiernach zweifellos unsere Unschuld vermissen.

 

Tatsache ist immerhin, dass ich seit diesem Tag ich an nichts anderes mehr denken kann als an das, an was ich nicht denken will. Dennoch bin ich nach wie vor überzeugt, dass dies lediglich den ersten Schritt hin zum vollkommenen positiven Denken darstellt. Schließlich hat niemand gesagt, dass es sich die gelebte Spiritualität leicht machen würde.

 

Die Möglichkeit eines Auswegs habe ich zwischenzeitlich hierin gefunden: Auch ich verbreite nun den innovativen Erkenntnissatz, nur noch Gutes, nicht aber länger Schlechtes zu denken - selbstverständlich mit dem unentbehrlichen Verweis auf Risiken und Gefahren. Und schaue dann, wie andere mit dieser Herausforderung umgehen.

 

Denken tue ich indessen nur noch Schlechtes. Ich kann nichts anderes mehr denken. Aber beruhigend zu wissen, dass dies nun viele andere ebenso tun. Zunehmendes Bewusstsein kann dieser Welt schließlich nur nutzbringend sein.

 

Mein psychologischer Berater indessen spricht von einer Zwangsneurose. Es ist offensichtlich, dass er schlicht keine Ahnung von spiritueller Bewusstwerdung hat. Denn was, wenn ich nicht positiv denke? Nicht auszudenken.

 

Herr über meine Gedanken – ich dachte, dass ich es einst gewesen wäre.

 

Mein Leben dagegen folgt unverändert ruhigen Bahnen und lässt bis hierhin nichts befürchten. Vielleicht sieht die Wahrheit ja doch ein wenig anders aus? Unter Umständen - nur unter Umständen - könnte sich hier sogar Erlösung verbergen.

 


aus der Reihe: (Wider)Sinne | © 2oo5, Saskia Katharina Krost